Kant und das Problem einer internationalen Friedensordnung (Bonn)

Unter dem Eindruck des aktuellen Krieges in Europa stellt sich die Frage, ob die klassische Idee des Völkerrechts nicht an ein Ende gekommen ist. Viele glauben, ein neues Zeitalter der Einflusssphären und der Machtblöcke habe soeben begonnen. Die Gegenperspektive dazu ist diejenige Kants, der mit Blick auf seine Zeit davon spricht, dass die Verrechtlichung zwischenstaatlicher Verhältnisse noch längst nicht hinreichend sei. Kant hat in seiner Schrift Zum ewigen Frieden (1795) darauf hingewiesen, dass die internationale politische Konstellation von rechtlichen Regelungsdefiziten bestimmt ist, die nur durch einen ‚Völkerbund‘ zu beheben seien. Tatsächlich erweist sich das gegenwärtige System strategischer Absprachen und Vertragsschlüsse sowie schwacher internationaler Organisationen als überfordert mit den Aufgaben der Friedenssicherung. Eine der wichtigen Forschungsfragen lautet: Kann man angesichts der bestehenden Regulierungsmängel von einem internationalen Naturzustand sprechen? Zunächst ergibt sich ein Einwand aus der klassischen Theorie des Völkerrechts: Unter einem Naturzustand ist eine Situation der völligen Abwesenheit von Recht zu verstehen, also ein Hobbes’scher ‚Krieg aller gegen alle’; doch die rechtlich-politischen Verhältnisse im Globalmaßstab sind gegenwärtig keineswegs nicht-reguliert. Gegen diesen Einwand kann man geltend machen, dass sich auch von einem Naturzustand von X sprechen lässt, d.h. von einem Regelungsbedarf bezogen auf ein ganz bestimmtes interpersonales Handlungsfeld, und überdies von einem graduellen Naturzustand von X, d.h. von einem bestimmten Ausmaß solcher Mängel. Gemäß diesem Sprachgebrauch bildet die komplette Anarchie nur den abstrakten Grenz- oder Extremfall von Regelungs-, Rechts- oder Implementierungsdefiziten. Wenn es richtig ist, von einem partiellen internationalen Naturzustand zu sprechen, gilt der auch von Kant formulierte staatsphilosophische Grundsatz ‚Man muss den Naturzustand verlassen’ (exeundum est e statu naturali). Den Naturzustand kann man jedoch nur durch die Etablierung einer wirkungsvollen Zwangsgewalt überwinden, d.h. durch eine zwangsbefugte supranationale Staatsgewalt.