Kant über Expertentum in einer demokratischen Gesellschaft (Köln)

Respektlosigkeit gegenüber der Wahrheit, eine anhaltende Konjunktur des Verschwörungsdenkens und ein weitreichendes Misstrauen gegenüber Experten sind charakteristische Merkmale der gegenwärtigen Politik und öffentlichen Meinung. Diese Phänomene haben vielfältige Ursachen, eine davon wird aber eher selten diskutiert: Es gibt eine starke Disanalogie zwischen demokratischen Idealen und epistemischen Normen. Demokratietheoretisch sind alle Bürger gleich, und sie sollten alle als unabhängige Wähler in ihrer jeweils eigenen Meinungsbildung respektiert werden. Aus epistemischer Perspektive ist dagegen die epistemische Ungleichheit (z.B. zwischen Experten und Laien) unvermeidlich, und Laien sollten rationaler Weise oft einfach der Autoritätsmeinung folgen. Ziel des Forschungsprojekts ist es, auf der Grundlage der Kantischen Philosophie das Spannungsverhältnis von demokratischen Idealen und epistemischen Normen neu zu bestimmen. Kant wird üblicherweise eine individualistische Lesart epistemischer Normen zugeschrieben. Für diese individualistische Lesart scheint der von Kant geprägte Leitspruch der Aufklärung: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ zu sprechen. Außerdem bestimmt Kant das „Selbstdenken“ als eine von drei Maximen für den erfolgreichen Gebrauch des gesunden/gemeinen Menschenverstandes. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass Kant keine individualistisch verstandene epistemische Autonomie vertritt. Autonomie darf nicht mit Autarkie oder Selbstgenügsamkeit verwechselt werden. Man kann vielmehr nach Kant nur dann epistemisch autonom sein, wenn man in einer epistemischen Beziehung mit anderen steht. Erkenntnistheoretische Autonomie und erkenntnistheoretischer Kommunitarismus sind zwei Seiten der gleichen Medaille ‒ man kann das eine nicht ohne das andere haben, denn epistemische Autonomie erfordert als Bedingung für ihre Möglichkeit nicht nur andere, sondern eine Gemeinschaft mit anderen. Kant zufolge besteht die epistemische Autonomie in der Selbstgesetzgebung auf der Ebene unserer epistemischen Prinzipien. Diese Prinzipien fordern allerdings nicht, dass man immer nur seinem eigenen Verstand folgt und niemals auf Expertenmeinungen deferieren sollte. Die Kantische Philosophie zeigt also einen dritten Weg auf zwischen blinder Autoritätsgläubigkeit und autoritätsfeindlichem Denken.